Wären die Briefe Pessoas an Mário de Sá-Carneiro erhalten und zusammen mit denen von Sá-Carneiro an Pessoa herausgegeben worden und nicht nur die Briefe an Pessoa, wäre auch die Agenda der Entdeckung Pessoas als großer Dichter Portugals eine andere gewesen. Denn auch wenn die Schriften Pessoas heute mit einigen Ausnahmen im Briefwechsel fehlen, die Antworten Sá-Carneiros, die darin zutage tretende Durchdringung und das ungeheure gegenseitige Vertrauen hätten der literarischen Welt viel früher das Zeugnis gebracht, dass hier zwei bedeutende Vertreter des Modernismus in Korrespondenz stehen. Und auch, wer Pessoas Heteronyme de Campos, Reis, Caeiro, waren, liegt in den Briefen verborgen.
Aber so wurden die Briefe Sá-Carneiros an Pessoa als „Werk“ des Ausnahme-Dichters und Sonderlings Sá-Carneiro herausgegeben. Gewiss ein Werk, von dem man erst später verstehen würde, was in ihm schlummerte. Denn in den erhaltenen Briefen von Sá-Carneiro finden sich entscheidende Details über das Werk von Fernando Pessoa.
Der Autor
Mário de Sá-Carneiro (1890 — 1916) war Dramatiker und Prosaautor und begann erst unter dem Einfluss Pessoas in Paris zu dichten. Ein in der Literaturgeschichte unerreichter Narziss, der im Fin-de-Siècle schwelgte und die portugiesische Moderne erschuf.
Sá-Carneiro erkannte Pessoas ästhetisches Experiment der Heteronymie als Erster und bedrängte ihn, als Dichter, als ein Balzac des 20. Jh., in die Öffentlichkeit zu treten. Er war der wohl sensibelste Vertreter seiner von Kriegen verstümmelten Generation. Sá-Carneiros Obsession war der Tod – die wirkliche Welt war ihm eine stümperhafte Erschaffung. In einem glorifizierten Selbstmord – an dem er seinen Freund in aller Brutalität teilnehmen ließ – erhöhte er den Tod zu seinem kompromisslosesten Kunstwerk.